„Von Schwalben und sterbenden Schwänen“, Öl auf Leinwand, 2012-2014

Nina Schedlmayer: „Unmännliche Pathosformeln“, 2014

In den 1920er-Jahren erstellte der Kunsthistoriker Aby Warburg seinen berühmten Mnemosyne-Atlas: Die von ihm schon lange vorgenommenen Analysen zum Nachwirken der Antike in der italienischen Renaissance fanden Niederschlag in Arrangements von Reproduktionen künstlerischer Objekte. Darüber hinaus fügte Warburg auch visuelle Erzeugnisse seiner Zeit, die damals von der Kunstgeschichte noch keineswegs berücksichtigt wurden, hinzu: Reklamebilder (etwa von Toilettenpapier), Briefmarken und Pressefotografien finden sich ebenso wie Abbildungen von Kunstwerken auf den zahlreichen Tafeln, die Warburg häufig neu anordnete. Schon zuvor hatte der Kunsthistoriker übrigens den Begriff der „Pathosformel“ geprägt, in dem sich dieselbe Idee kristallisiert wie im Mnemosyne-Atlas: Dass nämlich gewisse Gesten und Formen über die Jahrhunderte hinweg immer und immer wieder abgebildet werden. Ein ähnlicher Gedanke steckt hinter Hannah Winkelbauers Malereiserie „Von Schwalben und sterbenden Schwänen“. Sie geht von jenen hochdramatischen „Pathosformeln“ aus, die Fernsehzuschauern und Zeitungslesern während massenmedial wirksamen Sportevents Tag für Tag begegnen. In ihren Bildern unterschiedlichen Formats treten uns Fußballspieler in Körperhaltungen entgegen, die auf Warburgs Tafeln Nummer 42 („Leidenspathos in energetischer Inversion“) und 44 („Sturz“) passen würden: Da bedeckt Bastian Schweinsteiger mit beiden Händen sein Gesicht, das Dress unter die Handflächen geschoben. Da stürzt Franck Ribéry kopfüber nach unten. Da vollführen zwei Spieler bei einem Match zwischen Stuttgart und Oberhausen akrobatisch wirkende Figuren. Da gruppieren sich drei Sportler mit bangender Mimik und ringenden Händen zu einem Triptychon. Die Vorbilder zu ihren Gemälden findet die Künstlerin in den Zeitungsfotografien über eine vermeintlich zutiefst männliche Sportart, die ihren Spielern dennoch etwas erlaubt, was einst allerorten, heute zumindest noch in ländlichen Regionen als zutiefst unmännlich gilt: Nämlich das ungenierte Vorzeigen von – resignativen – Emotionen, von Verzweiflung, das Weinen und Klagen. Eben diese Momente arbeitet Winkelbauer heraus, vor reduziertem Hintergrund, der ihre dramatische Wirkung verstärkt. Und plötzlich erscheinen die Nationalhelden nicht mehr ganz so heroisch, sondern als Ausdrucksträger der Warburgschen „Pathosformeln“. Bloß, dass es dabei nicht wie bei den Alten Meistern und in der Antike um Leben und Tod geht – sondern bloß um ein Spiel.

Nina Schedlmayer ist freie Kunstkritikerin und Journalistin und schreibt u.a. für Profil und artmagazine.cc.